Wiederaufbau in Syrien: Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft?

Online-Gespräch vom 16. November 2020

Während der Krieg in Syrien noch andauert, wird in der internationalen Politik bereits über den Wiederaufbau diskutiert. Die humanitäre Hilfe ist zu einer politischen Kontroverse geworden. Trotzdem kann jede*r Einzelne einen Beitrag leisten, um die Not in Syrien zu lindern.
Aktionstagung 2020
© Pro Peace

Podiumsgäste
Samer al Hakim (Aktivist)
Anna Fleischer (Heinrich-Böll-Stiftung Beirut)
Yassin Ied (Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine e. V. / Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft e. V.)

Zur Themenwoche „Frieden für Syrien“

„Der Syrienkrieg ist eine der schlimmsten von Menschen gemachten Katastrophen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Zerstörung ist immens: Zwei Drittel der Krankenhäuser und ein Drittel der Wohngebäude wurden zerstört. 13 Millionen Menschen wurden vertrieben. Mehr als 80 Prozent der Syrer*innen leben unter der Armutsgrenze. Millionen darunter können sich kaum ernähren. Der Bedarf ist immens“, sagt der Aktivist Samer al Hakim.

Laut den Vereinten Nationen und anderen Akteur*innen belaufen sich die möglichen Kosten für den Wiederaufbau in Syrien auf bis zu 400 Milliarden US-Dollar. Die engsten Verbündeten des syrischen Regimes, insbesondere der Iran und Russland, wollen oder können diese Mittel nicht aufbringen. Sie fordern Europa und vor allem auch Deutschland auf, Geld für den Wiederaufbau zu geben. Die deutsche Bundesregierung möchte finanzielle Hilfen jedoch nur in Verbindung mit einem politischen Prozess gewähren, der zu freien Wahlen führt und den Schutz der Menschen vor Verfolgung sicherstellt. Teile der deutschen Gesellschaft, Politik und Friedensbewegung drängen aber auf unmittelbare Hilfe, um die akute Not zu lindern. Der Wiederaufbau in Syrien ist zu einer politischen Kontroverse geworden.

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Aufzeichnung des Online-Gesprächs vom 16.11.2020

Aber wie kann der Wiederaufbau in Syrien gelingen? Welche Probleme gibt es? Und welche Rolle spielt dabei die Zivilgesellschaft? Darüber sprachen der Aktivist Samer al Hakim, Anna Fleischer von der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut und Yassin Ied vom Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine e. V. bei der zweiten Podiumsdiskussion der Pro Peace-Themenwoche „Frieden für Syrien“.

Politisierung der humanitären Hilfe

„Das Regime herrscht weiterhin mit geheimdienstlicher Unterdrückung, mit systematischen Massenvernichtungen von Zivilist*innen in Gefängnissen und Folterkerkern des Regimes und mit staatlicher Willkür. Das Land befindet sich nicht mehr in Privatbesitz des Assad-Clans. Jetzt gehört Syrien auch denen, die Assad zum Sieg verholfen haben. Dieses Spektrum betrachtet Syrien für sich als Beute, die sie jetzt unter sich aufteilen wollen“, sagte Samer al Hakim. Das bedeute, der Wiederaufbau sei kein rein technisches oder humanitäres Thema. Das syrische Regime und seine Verbündeten nutzten den Wiederaufbau als Teil einer Strategie, um die Führung in Damaskus international wieder salonfähig zu machen. Dabei solle vertuscht werden, dass Assad den Krieg nur mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit für sich entschieden habe.

Samer al Hakim findet den Diskurs um den Wiederaufbau Syriens daher absurd. „Man muss sich fragen, wie das syrische Regime mit diesen Hilfsgeldern umgeht. Bekommen diejenigen, die die Hilfe am nötigsten brauchen, diese Hilfsgelder? Die Antwort ist einfach: Nein“, kritisierte der Aktivist. Anna Fleischer von der Heinrich-Böll-Stiftung glaubt, dass die humanitäre Hilfe politisiert werde. „In Gebieten, die als abtrünnig bezeichnet wurden, zum Beispiel Ost-Ghouta, sind Hilfsgüter nicht angekommen und wenn sie angekommen sind, dann wurden sie verkauft für das Vielfache ihres Preises. Das ist eine Taktik, die seit Jahren praktiziert wird. Loyalist*innen werden belohnt und Abtrünnige bestraft“, sagte sie.

Die vollständige Dokumentation der Pro Peace Themenwoche „Frieden für Syrien“ können Sie hier herunterladen.

Yassin Ied berichtete, wie humanitäre Hilfe für Syrien in der Praxis funktionieren kann. Die Freie Deutsch-Syrische Gesellschaft unterstützt seit rund zehn Jahren die notleidende Zivilbevölkerung in Syrien. Der Verein mit Sitz in Hamburg verteilt zum Beispiel Lebensmittel, medizinische Gerätschaften und Winterkleidung. Die Hilfsgüter werden über Organisationen und Kontakte vor Ort verteilt. „Aktuell ist es so, dass große Teile des Landes wieder unter der Kontrolle des Regimes stehen. Das erschwert die Unterstützung und Hilfe der Zivilbevölkerung vor Ort“, erzählte Ied.

Blick ins Nachbarland Libanon

Die Heinrich-Böll-Stiftung führt im Nachbarland Libanon unter anderem Projekte mit den vielen Menschen durch, die aus Syrien geflohen sind. Die Arbeit sei durch die aktuelle Wirtschaftskrise im Libanon schwieriger geworden, sagt Anna Fleischer, die in Beirut arbeitet: „Der Libanon befindet sich in einer Bankenkrise, in einer Finanzkrise. Es gibt eine Hyperinflation und seit Oktober letzten Jahres auch politische Proteste. Von daher ist der Libanon in einer multiplen Krise, was auch nach Syrien hineinwirkt.“

Dennoch gebe es eine sehr vielfältige zivilgesellschaftliche Landschaft im Libanon – auch viele Syrer*innen seien aktiv. Zwar sei humanitäre Hilfe vom Libanon aus schwierig zu leisten, da es anders als in der Türkei und im Irak keine offenen Grenzübergänge zu Syrien gebe. Aber die syrische Diaspora engagiere sich auf andere Weise. In einem Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung kommen beispielsweise syrische Städteplaner*innen, Architekt*innen und Designer*innen zusammen, um über mögliche Zukunftsszenarien für Syrien zu diskutieren. Fleischer glaubt, dass für den Wiederaufbau eine solche Vernetzung sehr wichtig ist, weil die Menschen einander kennenlernen müssten, um ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln.

Wiederaufbau mit Bedingungen

Samer al Hakim nannte drei Punkte, die er für den Wiederaufbau wichtig hält: So müsse die zerstörte Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser und Wohnhäuser wiederaufgebaut werden. Binnenvertriebene und Geflüchtete müssten in der Lage sein, sicher und unter gesicherten Eigentumsständen freiwillig in ihre Heimat zurückkehren zu können. Darüber hinaus sei eine friedliche, umfassende und nachhaltige politische Lösung unabdingbar.

Yassin Ied kritisierte, dass internationale Organisationen wie das World Food Programme und das Internationale Rote Kreuz bei ihrer Arbeit in den vom Regime kontrollierten Gebieten nach den Spielregeln des Regimes arbeiten müssten.

Laut Anna Fleischer besteht die Gefahr, dass die Diskussion um den Wiederaufbau darauf hinausläuft, dass nach Beendigung der Kriegshandlung eine neue Seite aufgeschlagen werde. Syrer*innen könnten aber keine neue Seite aufschlagen, solange ihre Verwandten noch immer in Gefängnissen säßen oder verschwunden seien. „Denn was soll das für ein Land sein, in dem vielleicht Stein auf Stein gesetzt wurde, aber das soziale Geflecht komplett zerrissen ist und wo es kein Vertrauen gibt?“, fragte sie.

Frieden braucht Sie!

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Spenden

Es gehe darum, dass internationale Organisationen, die in den vom Regime kontrollierten Gebieten aktiv sind, die tatsächliche Umsetzung von Reformen einforderten. Die Transparenz müsse erhöht werden. Und die internationalen Organisationen müssten die Situation vermehrt überwachen, damit sichergestellt werde, dass keine Vetternwirtschaft stattfinde. „Und sie müssen ganz klar die Diaspora unterstützen, die nämlich Kontakte haben zu diesen informellen Netzwerken, damit sie auch die Forderungen und Bedarfe aus Syrien heraus melden können. Immer mit dem Wissen, dass das keine sichere Arbeit ist. Sondern dass das auch für Menschen eine Gefahr darstellen kann, und das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Auch in Deutschland“, forderte Anna Fleischer.

Samer al Hakim kritisiert daher die jetzige Debatte: Wenn über Syrien geredet würde, gehe es fast nur um deutsche Innenpolitik und keine Außenpolitik. „Es wird nicht diskutiert, wie man für den Frieden in Syrien arbeiten kann. Was kann man machen, um die Situation zu verbessern?“, erklärte er. Wenn es Diskussionen zu Syrien gebe, dann zum Thema Abschiebungen oder Flucht. „Man denkt nur: Wie kann man die Geflüchteten an ihrer Reise nach Europa hindern? Man denkt nicht darüber nach, wie wir die Situation besser machen können, damit keiner mehr aus seiner Heimat fliehen muss.“

Hilfe aus Deutschland gefordert

Auch Yassin Ied und sein Verband fordern einen größeren Einsatz Deutschlands: „Wir wünschen uns, dass Deutschland sein politisches Gewicht in die Waagschale wirft, um die Forderungen nach demokratischen Reformen durchzusetzen.“ Doch nicht nur die Bundesregierung müsse sich engagieren, sagte Samer al Hakim. „Wir als Zivilgesellschaft in Deutschland haben eine große Verantwortung, bekannt zu machen, wie dieses Regime diesen Krieg gemacht hat und welche Menschenrechtsverletzungen noch bis heute laufen“, unterstrich er.

„Ich glaube, es ist wichtig, dass die Leute wieder anfangen, über Syrien zu sprechen, und dass sie verstehen, dass es mehr ist als eine ‚Flüchtlingskrise‘. Schon dieses Wort ‚Flüchtlingskrise‘ tut mir immer sehr weh, weil es suggeriert, dass diese Menschen ein Problem seien. Es ist wichtig, zu verstehen, warum die Menschen geflohen sind. Und es ist wichtig, sich darüber zu informieren, was in Syrien passiert, und weiter Nachfragen zu stellen“, ergänzte Anna Fleischer.

Jede Person könne auf ihre Weise aktiv werden, sagte Yassin Ied – egal ob mit ehrenamtlichem Engagement oder durch Spenden. Wichtig sei auch, die Arbeit der verschiedenen Hilfsvereine besser bekannt zu machen. Als Privatperson könne man zum Beispiel Geld sammeln, um Aktionen der Hilfsvereine zu unterstützen. „Wenn man sich engagieren will, ist es immer möglich.“