
Podiumsgäste
Wafa Mustafa (Journalistin)
Amin al Magrebi (Aktivist)
Kinan Kouja (Schriftsteller)
Fünf Jahre nach der Ankunft einer großen Zahl von Syrer*innen in Deutschland, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind und ihr Recht auf Asyl und Schutz in Anspruch genommen haben, sind die Neuangekommenen ein Teil der deutschen Gesellschaft geworden. Viele von ihnen arbeiten mittlerweile hier oder besuchen Universitäten und Schulen. Je mehr die Interaktionen zwischen ihnen und der deutschen Gesellschaft fortschreiten, desto mehr stellt sich die Frage, wie eine aktive Teilhabe am politischen Leben gelingen kann.
Im Rahmen der Pro Peace-Themenwoche „Frieden für Syrien“ sprachen die Journalistin und Aktivistin Wafa Mustafa, der Schriftsteller Kinan Kouja und der Aktivist Amin Al Magrebi über die Dynamik politischer Entscheidungen in Deutschland und ihre Auswirkungen auf das Leben syrischer Geflüchteter und Migrant*innen. Eine zentrale Frage lautete: Welche Perspektiven gibt es für eine aktive Teilhabe syrischer Menschen am politischen Leben in Deutschland? Moderiert wurde das Gespräch von Wadiaa Ferzly von der Online-Plattform Al-Jumhuriya.
Aufzeichnung des Online-Gesprächs (Arabisch!) vom 18.11.2020
Um überhaupt Teil des politischen Lebens zu sein, sei es enorm wichtig, dass man das politische Leben, die Parteien Deutschlands und die verschiedenen politischen Institutionen verstehe, sagte Kinan Kouja. Daher solle die politische Integration nicht auf Integrationskurse reduziert werden, die häufig ohnehin nur als Pflicht betrachtet würden, forderte er. Außerdem müsse unterschieden werden zwischen denjenigen, die eine Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht erworben haben, und jenen, die dies noch nicht erhalten haben. Für Letztere sei es zumindest möglich mit Aktivist*innen zu kommunizieren. Jede Person solle aber die Parteien kennen, die zu Themen arbeiten, welche Geflüchtete und Syrien betreffen.
Wafa Mustafa argumentierte, dass der Weg zur politischen Teilhabe für jede Person ein Prozess des Herausfindens und persönlichen Verstehens sei. Die Journalistin engagiert sich selbst in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie „Adopt A Revolution“ und „Families for Freedom“. Politische Teilhabe sei sehr subjektiv und mit der persönlichen Erfahrung verbunden, sagte Mustafa. Grundsätzlich gebe es zwei Möglichkeiten, sich einzubringen: einerseits in politischen Parteien und andererseits in der Zivilgesellschaft.
Aktive Teilhabe am politischen Leben
Aber wie kann politische Teilhabe konkret aussehen? Und was sind die Ziele der Syrer*innen? Für die syrische Community gebe es zwei Prioritäten in Deutschland, sagte Amin Al Magrebi. „Die Aktivitäten konzentrieren sich auf zwei Punkte: Der erste dreht sich um die Revolution in Syrien und was geschehen ist beziehungsweise noch geschieht. Der zweite bezieht sich auf das Leben in Deutschland – egal ob Integration, Kampagnen gegen Abschiebungen oder Kampagnen, die die Identität bewahren sollen, was in den kulturellen Bereich fällt“, sagte Magrebi. Der Student der Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität engagiert sich selbst bei der Organisation „Adopt A Revolution“ und in der Kampagne „Syria is not safe“, die sich für eine Verlängerung des Abschiebestopps nach Syrien einsetzt. Magrebi ist außerdem Mitglied des Integrationsbeirates in Berlin-Pankow.
Die vollständige Dokumentation der Pro Peace Themenwoche „Frieden für Syrien“ können Sie hier herunterladen.
Der Schriftsteller Kinan Kouja betonte, dass er aktiv am politischen Leben in Deutschland teilhaben möchte. „Wir leben in diesem Land. Und alles, was unserer Zukunft und der unseres Volkes in Syrien hilft, funktioniert nur, wenn wir integriert sind. Alles, was wir machen, ist Bestandteil der deutschen Syrienpolitik. Aber wir müssen auf der politischen Landkarte Deutschlands präsent sein, indem wir zum Beispiel Parteimitglieder werden“, sagte er.
Amin Al Magrebi erzählte daraufhin von seinen Erfahrungen. Vor zwei Jahren sei er das erste Mal als Mitglied bei einem Treffen des Integrationsrates in Pankow in Berlin gewesen, erzählte er. „Es gab einen Unterschied zwischen der Realität und dem, was ich mir vorgestellt hatte. Der Rat war bunt, divers und nicht auf bestimmte Gruppen von Einwander*innen beschränkt. Daher lag unser Fokus auf allgemeinen Fragen wie Mehrsprachigkeit an Schulen oder Empfehlungen, um bürokratische Vorgänge für Migrant*innen oder Menschen ohne deutschen Pass zu erleichtern.“
Von anderen Migrant*innen lernen
Doch damit Syrer*innen ein Teil der Öffentlichkeit werden, bedürfe es einiger Dinge, warf Wafa Mustafa ein. So sei das Erlernen der Sprache besonders wichtig. Eine Reihe psychologischer Gründe, aber auch Lebensumstände, Ausweispapiere oder der Flüchtlingsstatus spielten eine Rolle, ebenso wie das Interesse der deutschen Parteienlandschaft an Syrer*innen und ihren verschiedenen Angelegenheiten und Prioritäten. Die politische Repräsentation von Syrer*innen leide aber unter einer Reduzierung auf bestimmte Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Gefangene oder Geflüchtete, die diese vermeintlich repräsentierten.
Die Diskutant*innen stellten sich auch die Frage, ob es innerhalb der syrischen Community einen stärkeren Diskurs brauche, um das politische Engagement zu stärken. Alle waren überzeugt, dass man von den Erfahrungen anderer Migrant*innen-Communitys profitieren könne. Dies betreffe insbesondere den Integrationsprozess. Als Beispiel nannte Kinan Kouja eine mediale Umfrage unter Mitgliedern der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland aus dem Jahr 2017. Darin seien die Fragen suggestiv gestellt worden und in der Folge sei die muslimische Gemeinschaft extremistisch erschienen.
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Wafa Mustafa glaubt jedoch, dass ein einheitlicher Diskurs nicht möglich ist. „Ich habe aus vielen Enttäuschungen gelernt, wie schwierig es ist, den Diskurs zu vereinheitlichen und neue Leute zu erreichen.“ Sie fügte hinzu: „Vielleicht gibt es einfach keine gemeinsamen Interessen. Vielmehr bringen multiple Interessen verschiedene Gruppen zusammen und überschneiden sich in manchen Punkten. Der Diskurs kann auf diesen Überschneidungen basieren.“
In diesem Zusammenhang vermutete Amin Al Magrebi, dass eine syrisch-deutsche Identität entstehen könne – ähnlich wie andere Identitäten von Deutsch-Türken oder Deutsch-Russen. Dies sei jedoch ein Prozess und zeige sich vermutlich erst in der zweiten oder dritten Generation.
Auch eine Diskussion, die seit zehn Jahren unter den Syrer*innen sehr präsent ist, wurde aufgegriffen: Wie hängen zivilgesellschaftliche und politische Arbeit zusammen? Und was sind Unterschiede zwischen beiden Bereichen? Wafa Mustafa glaubt, dass „das Persönliche politisch ist; die aktivistische Arbeit und die zivilgesellschaftliche Arbeit können nicht von der politischen getrennt werden. Alle Anstrengungen, die wir als Individuen unternehmen, sind Teil politischen Handelns.“ Ihre eigene Arbeit stufe sie nicht als zivilgesellschaftliche Arbeit ein, sondern als einen politischen Akt, der ihre politische Arbeit ergänze.
Deutsche und syrische Zivilgesellschaft vernetzen
In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob sich die syrischen Themen mit denen der deutschen Gesellschaft überschneiden. Amin Al Magrebi glaubt, dass Synergien möglich sind. Dies würde Syrer*innen ermutigen, Deutschland kennenzulernen. Er ist sogar der Meinung, dass es sehr wichtig sei, da es weltweit eine Tendenz zu autoritären Systemen gebe. Gleichzeitig würden immer mehr Staaten Menschenrechte ignorieren. Menschen, die Teil einer Revolution waren, deren wichtigstes Ziel die menschliche Würde war, müssten sich diesem Trend zu autoritären Systemen entgegenstellen. Dies sei eine große Aufgabe, könne jedoch den Umgang mit der deutschen Gesellschaft vereinfachen und die Syrer*innen bestärken.
Kinan Kouja forderte sogar, dass ein gemeinsames Wertesystem gemeinsam mit der deutschen Gesellschaft und anderen Communitys in Deutschland wie Migrant*innen und Geflüchteten entwickelt werden müsse. Denn auch die deutsche Gesellschaft sei in sich gespalten, betonte er. Ein gemeinsamer Ansatz gegen Rassismus könne alle auch mit denen zusammenbringen, die dagegen sind. So sah Kouja auch die politische Teilhabe an der Gestaltung von Schutz- und Präventionskonzepten gegen Extremismus als unvermeidlich, aber schwer umsetzbar an, da Extremismus ein Problem sei, das über die deutschen Grenzen hinaus auch in Europa vorhanden sei. Er ist überzeugt, dass es viele Wege gibt, Syrer*innen und Deutsche zu vereinen. Humanitäre Werte seien die Basis, auf die aufgebaut werden könne.
Die Diskussion über die politische Teilhabe von Syrer*innen in Deutschland geht weiter und die Dialoge werden nicht an einem bestimmten Punkt enden, resümierten die drei Aktivist*innen. Genau hier liege die Bedeutung öffentlicher Diskussionen. Sie ebneten verschiedene Wege und Mechanismen für Syrer*innen und ihre Meinungen.