Die syrische Diaspora: Eine starke Stimme für Frieden?

Online-Gespräch vom 13. November 2020

Von Demonstrationen über Hilfslieferungen bis hin zu Netzwerken und Dialogforen: Die syrische Zivilgesellschaft im Exil ist sehr aktiv. Seit 2011 ist die Zahl syrischer Vereine in Deutschland stark gestiegen. Doch es gibt auch Hürden für das Engagement für Frieden.
Aktionstagung 2020
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Podiumsgäste
Hozan Ibrahim (Impact e. V.)
Dr. Esther Meininghaus (Bonn International Center for Conversion)
Dr. Nora Jasmin Ragab (Maastricht University)

Zur Themenwoche „Frieden für Syrien“

Ist die syrische Diaspora eine starke Stimme für Frieden? Diese Frage stand im Zentrum des ersten Online-Gesprächs im Rahmen der forumZFD-Themenwoche „Frieden für Syrien“. Zu Gast waren Hozan Ibrahim von Impact e. V., Dr. Esther Meininghaus vom Bonn International Center for Conversion (BICC) sowie Dr. Nora Jasmin Ragab, die an der Maastricht School of Governance zum Thema Migration und Entwicklung forscht. Zu Beginn erläuterte Ragab in einem einführenden Vortrag zunächst den historischen Kontext.

Vor Beginn des Konflikts in Syrien im Jahr 2011 gab es auch in Deutschland kaum eine unabhängige syrische Zivilgesellschaft, so die Wissenschaftlerin. Es existierten zwar einige deutsch-syrische Vereine, diese standen jedoch größtenteils dem Regime nahe und wurden von vielen Menschen als Instrument der Überwachung gesehen. Denn der Einfluss der Regierung in Damaskus reichte bis in die Diaspora hinein: So sei die politische oder zivilgesellschaftliche Selbstorganisation durch Drohanrufe oder Bedrohung von Familienangehörigen in Syrien unterdrückt worden. Generell habe eine Kultur der Angst und des Misstrauens geherrscht.

Ragab betrachtet daher die syrische Revolution, die 2011 ihren Anfang nahm, als ein transformatives Ereignis: Die Revolution habe einen Zuwachs an politischem und zivilgesellschaftlichem Engagement in der Diaspora ausgelöst. Viele Menschen im Ausland hätten es als moralische und politische Verpflichtung empfunden, sich mit den Demonstrant*innen in Syrien solidarisch zu zeigen und sie in ihren Bestrebungen nach Veränderungen zu unterstützen.

Das Video der Veranstaltung vom 13.11.2020 können Sie sich hier anschauen:

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Aufzeichnung des Online-Gesprächs vom 13.11.2020

Dr. Nora Jasmin Ragab berichtete, es habe in den letzten Jahren einen raschen Anstieg der Anzahl syrischer Organisationen und Initiativen in Deutschland gegeben. Die Wissenschaftlerin hat unter anderem in Vereinsregistern recherchiert und festgestellt, dass seit Beginn der Revolution viele neue Vereine mit Bezug zu Syrien gegründet wurden. Von knapp 40 Vereinen im Jahr 2011 stieg die Zahl bis 2019 auf fast 160. Ein wichtiges Merkmal dieser neuen zivilgesellschaftlichen Landschaft sei ihre große Vielfalt, betonte Ragab: Manche Organisationen hätten sich professionalisiert und verfügten über stabile finanzielle und personelle Kapazitäten. Andere jedoch seien vor allem auf Mitgliedsbeiträge und Freiwilligenarbeit angewiesen.

Die Arbeitsfelder der Vereine hätten sich im Laufe der Zeit mehrmals verändert, erläuterte Ragab: So habe sich das zivile Engagement, nachdem der Konflikt eskaliert sei, zunächst vom politischen Aktivismus hin zur humanitären Hilfe entwickelt, um die akute Not in Syrien zu lindern. Als jedoch immer mehr Menschen aus Syrien nach Deutschland gekommen seien, habe dies zu einer Transnationalisierung und Repolitisierung der Zivilgesellschaft geführt, da viele der Neuankommenden bereits in Syrien und auch in Nachbarländern aktiv gewesen seien. Außerdem sei die Förderung der Integration in Deutschland als neuer Arbeitsschwerpunkt hinzugekommen.

„Insgesamt ist die syrische Zivilgesellschaft geprägt von Diversität und Heterogenität. Wir sprechen nicht von einer Diaspora – sondern von vielen Akteur*innen, die in der Diaspora aktiv sind“, sagte Ragab. Dr. Esther Meininghaus vom Bonn International Center for Conversion (BICC) bestätigte diese Einschätzung. Sie distanzierte sich sogar vom Begriff der Diaspora, weil dieser suggeriere, dass es sich bei den Syrer*innen in Deutschland um eine homogene Gemeinschaft handele. Die syrische Zivilgesellschaft sei aber sehr vielfältig. Beide Wissenschaftlerinnen waren sich einig, dass die wohl schärfste Trennlinie innerhalb der syrischen Zivilgesellschaft zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen des syrischen Regimes verläuft.

Frieden schaffen durch Dialogräume

Der dritte Podiumsgast, Hozan Ibrahim, gab Einblicke, wie die Vereinsarbeit in der Praxis aussehen kann: Die gemeinnützige Organisation Impact e. V. mit Sitz in Berlin, die Ibrahim 2013 mitgegründet hat, unterstützt die syrische Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa, aber auch in Syrien und benachbarten Ländern. Der Verein stärkt unter anderem durch professionelle Trainings die Kapazitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und vernetzt die verschiedenen Akteur*innen miteinander. Zum Beispiel hat der Verein mehrere „Actor Mappings“ durchgeführt, bei dem eine große Anzahl zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Syrien und in der Diaspora erfasst wurden. Diese Auflistung gibt einen Überblick darüber, welche Vereine in welchem Bereich aktiv sind, und schafft damit eine wichtige Grundlage für Vernetzung.

Allen zivilgesellschaftlichen Initiativen gemein sei ein Wunsch nach Einheit und Frieden, glaubt Ibrahim. Sie wünschten sich eine Schaffung von Räumen für Dialog und Reflexion sowie eine konstruktive Aushandlung des Konfliktes.

Es braucht mehr Förderung für friedenspolitisches Engagement

Dr. Esther Meininghaus hob hervor, dass zivilgesellschaftliches Engagement für Frieden vielfältige Formen annehmen kann: Von der Teilnahme an Demonstrationen über Mahnwachen bis hin zu Vereinen, die Dialogforen für Frieden schaffen. Gerade für Vereine, die explizit im Bereich Frieden arbeiten möchten, mangele es aber in Deutschland an staatlicher Unterstützung. „Für solche Vereinsgründungen gibt es momentan in meinen Augen keine ausreichende strukturelle und finanzielle Unterstützung“, kritisierte Meininghaus. Während Projekte in Bereichen wie Integration mit staatlichen Mitteln unterstützt würden, fehle eine entsprechende finanzielle Förderung für friedenspolitisches Engagement.

Die vollständige Dokumentation der forumZFD Themenwoche „Frieden für Syrien“ können Sie hier herunterladen.

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen stehen noch vor weiteren Hindernissen. „Deutschland hat, was politische Partizipation angeht, ein sehr restriktives System“, kritisierte Dr. Nora Jasmin Ragab. So dürfen Syrer*innen in Deutschland nicht wählen, wenn sie keine deutsche oder EU-Staatsbürgerschaft haben. Die Möglichkeit zur politischen Teilhabe und damit die Möglichkeit, sich für Frieden einzusetzen, seien daher eingeschränkt.

Mit dem Pilotprojekt „MPs 2030“ setzt sich Impact e. V. dafür ein, die politische Teilhabe von Syrer*innen in Deutschland zu stärken. Der Projekttitel steht für „Members of Parliament (engl. für Abgeordnete) 2030“. Der Name ist Programm: Engagierte junge Menschen lernen in dem Projekt das politische und gesellschaftliche System in Deutschland kennen und werden darin bestärkt, den demokratischen Diskurs aktiv mitzugestalten. Die Vision ist, dass sich die jungen Menschen zu Führungspersönlichkeiten in Politik, Medien und Gesellschaft entwickeln und der Diaspora-Gemeinschaft eine Stimme geben können. Hozan Ibrahim erklärt: „Viele der Syrer*innen, die nach Deutschland gekommen sind, werden in einigen Jahren die Staatsbürgerschaft erhalten. Das ist eine große neue Wählergruppe, und diese Menschen brauchen nicht nur eine gute Integration, sondern auch politische Repräsentation.“

Mit Blick auf die diplomatischen Bemühungen um Frieden für Syrien stellte Dr. Esther Meininghaus zudem fest, dass der Fokus bisher vor allem auf hochrangigen Gipfeltreffen liege. „Friedensinitiativen von unten, die organisch wachsen, müssten viel stärker einbezogen werden“, forderte die Wissenschaftlerin. Dies würde die Chancen auf eine dauerhafte Friedenslösung in Syrien erhöhen. Dass es bis jetzt kaum Fortschritte in den Verhandlungen gegeben habe, habe allerdings militärische Gründe. So zeige das Regime keine Kompromissbereitschaft und habe im besten Fall an den Verhandlungen teilgenommen. Solange sich dies nicht ändere, helfe auch eine gut organisierte Zivilgesellschaft nicht.

Vernetzung mit deutschen Organisationen notwendig

Es gebe bereits verschiedenste Netzwerke von Syrer*innen in Deutschland und weltweit, erklärten alle Gesprächspartner*innen. Dazu gehörten auch Netzwerke, die in Syrien entstanden seien und durch die Transnationalisierung der Diaspora internationaler wurden. „Die Fragmentierungen sind da. Aber das ist etwas Natürliches in der zivilgesellschaftlichen Landschaft. Ich finde, dass es da intern schon sehr starke Prozesse gibt, Dialoge und Netzwerke zu schaffen“, glaubt Dr. Nora Jasmin Ragab. Hozan Ibrahim ergänzte, dass es zwar mittlerweile weniger Netzwerke als früher gebe, diese aber viel strukturierter seien und häufig klare thematische Schwerpunkte hätten. Allerdings seien viele der neugegründeten Vereine, die erst in den letzten Jahren entstanden sind, in diese Netzwerke noch nicht eingebunden. Hier gebe es Nachholbedarf.

Mehr Kontakt wünscht sich Hozan Ibrahim außerdem zu deutschen Aktivist*innen und Organisationen: „Die Verbindung zwischen deutscher und syrischer Zivilgesellschaft ist nicht sehr eng. Wir bei Impact e. V. versuchen, die Kontakte zu verbessern. Das funktioniert aber nicht immer so, wie wir uns das wünschen“, sagte er. Um langfristige Partnerschaften aufzubauen, seien verstärkte Anstrengungen nötig. Dr. Nora Jasmin Ragab fügte hinzu: „Ich glaube, dass es auf beiden Seiten einen Informationsmangel gibt. Ich kenne deutsche, lokale Akteur*innen, die sagen, sie würden mit syrischen Organisationen zusammenarbeiten, die aber gar nicht wissen, wer die Vereine sind oder, dass es so viele gibt. Da ist es auf beiden Seiten wichtig, dass man Informationen zur Verfügung stellt, wie viel Engagement es bereits gibt.“

„Wir können nicht aufgeben“

Hozan Ibrahim glaubt nicht, dass Angst vor politischer Repression die größte Hürde für mehr zivilgesellschaftliches Engagement ist. Vielmehr sei es eine gewisse Resignation, die Menschen aufgeben lasse. „Die Müdigkeit kann man nicht vermeiden. Vor allem wenn man die Lage in Syrien tagtäglich vom Ausland aus mitverfolgt. Das ist nicht einfach. Was Hoffnung gibt, sind aber die kleinen Sachen: Wenn man zum Beispiel sieht, wie kleine Initiativen in Syrien erfolgreich Hilfe leisten. Die haben nicht aufgegeben, also können wir auch nicht aufgeben“, sagte er. Es komme immer irgendwoher doch wieder die Kraft, Zuversicht zu haben, bestätigte Dr. Esther Meininghaus.

„Was mir Hoffnung gibt, dass es Frieden geben kann, ist, dass diese Zivilgesellschaft so vielfältig und über so viele Jahre aktiv ist – sowohl in Syrien als auch über die ganze Welt verstreut“, ergänzte Dr. Nora Jasmin Ragab. Und das trotz der Situation, die von Eskalation, Ausweglosigkeit und Gewalt geprägt sei. Ibrahim wies darauf hin, dass es seit 2011 viele Generationen von Aktivist*innen gegeben habe. Das zeige, wie viele Menschen sich für Frieden in Syrien einsetzen. Man müsse immer Hoffnung haben.