
Podiumsgäste:
Tareq Alaows (Aktivist)
Qusay Amer (Sprecher der LAG Migration und Flucht, Bündnis 90/Die Grünen Berlin)
Tarek Saad (Landesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt der SPD Schleswig-Holstein)
„Viele waren wie ich das erste Mal in einem kleinen Zimmer, wo sie selbst entscheiden konnten, wen sie wählen möchten. Das war eine super Erfahrung, obwohl es symbolisch war“, sagt Qusay Amer über die erste Berührung in seinem Leben mit echter Demokratie und dem Wahlsystem in Deutschland. 2017 hatte der junge Syrer gemeinsam mit anderen Aktivist*innen anlässlich der Bundestagswahl eine symbolische Stimmabgabe für Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin organisiert. Auf der Veranstaltung lernte Amer eine Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen kennen, die ihn mit „Bunt-Grün“, einem innerparteilichen Netzwerk von People of Color (nicht-weißen Menschen), in Kontakt brachte. Es folgte ein Praktikum im Berliner Abgeordnetenhaus. Mittlerweile ist er in die Partei eingetreten und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Migration und Flucht“ der Grünen in Berlin.
Tareq Alaows und Tarek Saad geht es ähnlich. Während der Aktivist Tareq Alaows sich unter anderem mit der Bewegung „Seebrücke e. V.“ für die Entkriminalisierung der zivilen Seenotrettung und sichere Fluchtwege einsetzt, engagiert sich Tarek Saad als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft „Migration und Vielfalt“ der SPD Schleswig-Holstein. Alle drei waren bereits in Syrien politisch aktiv – genauso wie viele andere, die nach Deutschland geflohen sind. Viele der Geflüchteten sind politisiert und wollen sich auch in Deutschland sowohl in der Parteipolitik als auch in der Zivilgesellschaft einbringen.
Aufzeichnung des Online-Gesprächs vom 17.11.2020
Doch die Möglichkeiten zur politischen Teilhabe sind begrenzt. Im Rahmen der Pro Peace-Themenwoche „Frieden für Syrien“ sprachen Tareq Alaows, Qusay Amer und Tarek Saad darüber, welche Erfahrungen sie gemacht haben, was sie motiviert und wie politisches Engagement gestärkt werden kann.
„Willy Brandt war auch ein Flüchtling.“
Tarek Saad erzählte, dass er sich nach seiner Ankunft in Deutschland eigentlich nicht politisch engagieren wollte, nachdem ihm dieses Engagement in Syrien fast das Leben gekostet hatte. Aber durch Gespräche mit der Bürgermeisterin in seinem Ankunftsort in Schleswig-Holstein war sein Interesse an der SPD schnell geweckt. Heute sagt er: „Willy Brandt war auch ein Flüchtling.“ Auf seine erste politische Kundgebung – eine Demonstration gegen Pegida in Kiel – ging er dennoch mit gemischten Gefühlen. Zu oft hatte er in Syrien erlebt, wie Menschen bei Demonstrationen durch staatliche Gewalt getötet worden waren. In Kiel blieb alles friedlich. „Das war eine ziemlich neue Erfahrung für mich. Ich konnte sagen, was ich wollte, da war diese Freiheit. Und die Polizei war da, um uns zu schützen, und nicht, um uns umzubringen. Das waren ziemliche Glücksgefühle.“
Die vollständige Dokumentation der Pro Peace Themenwoche „Frieden für Syrien“ können Sie hier herunterladen.
Trotz aller Gefahren, die mit politischem Aktivismus in Syrien verbunden waren, blickt Qusay Amer auch mit Dankbarkeit auf diese Zeit zurück. Denn dass er sich überhaupt politisch engagiere und dass er zu der Person geworden sei, die er heute ist, habe er der Revolution zu verdanken. „Die Zeit zwischen 2011 und 2013, in der die Revolution noch friedlich war und wir geglaubt haben, dass wir etwas schaffen können – diese Zeit hat uns gezeigt, wie man diskutiert, wie man redet, wie man überhaupt Ideen vorschlägt und trotz unterschiedlicher Meinungen einen Kompromiss findet. Vor der Revolution hatten wir keine Ahnung von politischer Diskussionskultur. Das haben wir uns dann selbst beigebracht.“
Die Revolution in Syrien sei insofern eine Art selbstorganisierte politische Bildung gewesen, so Qusay Amer. Dennoch sei vieles reine Theorie geblieben, da es nur wenig Möglichkeit gegeben habe, die Ideen in die Praxis umzusetzen. In Deutschland habe er daher lernen müssen, wie Demokratie funktioniere. Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, politische Parteien – all diese Dinge seien keine Selbstverständlichkeit für jemanden, der nicht in einem demokratischen Land aufgewachsen sei. Und manchmal sei es natürlich auch mühselig, Kompromisse zu schließen und Fortschritte zu erreichen.
„Es wurde viel über uns gesprochen, aber es wurde nicht mit uns gesprochen.“
Tareq Alaows bestätigte dies. Bei einem Protestcamp in Bochum habe er diese Erfahrung gemacht. 17 Tage und Nächte lang hatte er gemeinsam mit anderen Menschen gegen die Lebensumstände in den Unterkünften der Geflüchteten protestiert. Zunächst habe es wenige Reaktionen von offizieller Seite gegeben. Die Verwaltung habe zunächst gezögert, das Gespräch mit den Demonstrant*innen zu suchen. Als aber deutlich geworden sei, dass das Protestcamp konkrete Lösungsvorschläge entwickelt hatte, seien sie ins Gespräch gekommen. Letztendlich seien fünf konkrete Forderungen und Lösungsvorschläge, wie beispielsweise zur Zuständigkeit für die Angelegenheiten der Geflüchteten, dabei herausgekommen.
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Die Protestierenden wollten nicht hinnehmen, dass über sie entschieden wurde, ohne dass sie sich an der Lösungsfindung beteiligen konnten, betonte Tareq Alaows. Dass sie sich selbst als Teil der Lösung eingebracht und engagiert hätten, habe zudem einen ganz anderen Eindruck auf die Zivilgesellschaft gemacht. „Vorher wurde viel über uns gesprochen, aber es wurde nicht mit uns gesprochen. Deswegen laden wir uns jetzt selbst zu jeder Diskussion ein, in der es um uns geht“, sagte er.
Forderung nach Wahlrecht
Tarek Saad warf ein, dass nicht alle Neuangekommenen sich so schnell engagieren könnten. „Es hängt klar von der politischen Bildung ab. Und man darf nicht vergessen, dass Menschen, die mit einem Bleiberecht in Deutschland sind, nicht einmal auf kommunaler Ebene wählen dürfen“, sagte er. Die Möglichkeit zur Stimmabgabe würde aus seiner Sicht die Motivation zur politischen Beteiligung stärken. Daher plädierte er für ein kommunales Wahlrecht.
Qusay Amer forderte ebenfalls das Wahlrecht, würde dies aber nicht auf die kommunale Ebene begrenzen. Jede Person solle mitentscheiden dürfen, wer regiere, welche Politik gemacht werde und wie die Zukunft aussehe, einfach weil die Person ein Teil der Gesellschaft sei. Aber auch ohne Wahlrecht oder die Mitgliedschaft in einer Partei könnten sich Geflüchtete bereits engagieren, ergänzte Tareq Alaows. „Politische Arbeit bedeutet nicht unbedingt parteiliche Arbeit. Hier ist die große Rolle der Zivilgesellschaft“, warf der Aktivist ein. Wenn sich die Politik nicht einigen könne, sollten Menschen sich in der Zivilgesellschaft engagieren und Forderungen stellen. Durch zivilgesellschaftlichen Druck könne eine Menge erreicht werden. Es ginge aber auch um Gespräche, Zusammenarbeit und Hinweise an politische Entscheidungsträger*innen.
Angst vor Engagement
Dass manche Menschen Angst vor einem politischen Engagement haben, wenn es um Syrien geht, kann Qusay Amer verstehen. „Meine Familie ist auch komplett in Syrien. Aber das ist eine Entscheidung, die man treffen muss“, sagte er. Wenn nur ein Familienmitglied politisch aktiv sei, könne dies Auswirkungen auf die gesamte Familie haben. Er selbst stehe dennoch zu seiner Arbeit. Darüber hinaus gebe es Möglichkeiten sich zu engagieren, ohne in den Medien aufzutauchen. So forderte er alle auf, die Kampagne #SyriaNotSafe (syria-not-safe.org) zu unterstützen, damit der Abschiebestopp nach Syrien verlängert werde.
Tarek Saad erzählte in diesem Zusammenhang, dass er lange überlegt habe, ob er mit seiner persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit gehe. Am Ende sei die Dokumentation „First Line“ über seine Fluchtgeschichte entstanden. Sein Ziel sei es gewesen, zu zeigen, dass ein Zusammenleben und Integration möglich seien.
Tareq Alaows hat auch schon schlechte Erfahrungen damit gemacht, öffentlich Position zu beziehen. 2017 hatte er in sozialen Medien den Aufenthalt mehrerer AfD-Politiker in Syrien scharf kritisiert. Nachdem daraufhin sein Bruder bedroht wurde, entschied Alaows sich, künftig vorsichtiger mit öffentlichen Äußerungen zu sein. „Es gibt auch Möglichkeiten, sich aus dem Hintergrund heraus zu engagieren. Ich versuche zum Beispiel meine Netzwerke zu nutzen, um etwas für Syrien zu machen. Es ist unsere Verantwortung hier in einer demokratischen Gesellschaft, das zu fordern, was bestimmte Leute nicht fordern können, weil sie Angst haben, weil sie in vom Regime besetzten Gebieten leben“, sagte er.
Frieden braucht Sie!
Danke für Ihre Unterstützung
Auch die deutsche und europäische Asylpolitik war ein Thema bei der Online-Diskussion. Dazu sagte Tareq Alaows: „Als die Gesellschaft angefangen hat, zu diskutieren, ob Leute im Mittelmeer gerettet werden sollen, hat sich bei mir direkt die Frage gestellt: Was wäre, wenn ich eine dieser Personen wäre? Was ist meine Verantwortung als jemand, der den Weg nach Europa geschafft hat?“
Nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers auf einer griechischen Insel, in dem rund 4.000 Menschen leben, obwohl dies nur für 1.000 Menschen ausgelegt ist, habe er sich an seine Einsätze mit dem Roten Halbmond in Syrien erinnert. Auch dort habe es wie im Lager nicht genügend Zelte gegeben. „Wir haben uns geschämt. Ich frage mich, wie Europa wirklich zu diesen Lagern steht. Wie steht Europa zu dem Massengrab im Mittelmeer? Wie steht Europa zu den Folterlagern in Nordafrika? Nur weil ein paar europäische Politiker*innen der Meinung sind, dass es einen Pullfaktor gibt. Das ist Bullshit. Die Leute fliehen nicht aus Lust und Laune, sondern weil ihr Leben in Gefahr ist“, sagte Alaows. Der Aktivist forderte, die zivile Seenotrettung dürfe nicht länger kriminalisiert werden. Stattdessen müssten die europäischen Staaten Verantwortung übernehmen, Seenotrettungen durchführen, Lager auflösen und die kommunale Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen.
Keine Kompromisse bei Menschenrechten
„Wenn es um Freiheit und Menschenrechte geht, da kommen Kompromisse für mich nicht infrage. Da hört es auf“, sagte Qusay Amer. Wenn das miteinander verhandelt werde, stehe man vor einem großen Problem. Der sogenannte Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei sei der Horror und absolut menschenverachtend. Auch Tarek Saad übte Kritik an der aktuellen Politik der Bundesregierung: „Wenn es um das Thema Migration und Integration geht, gibt es viele Sachen, die gegen meine Grundüberzeugungen verstoßen.“
Für die Zukunft wünschen sich die drei, dass die Flüchtlingslager aufgelöst werden. Tareq Alaows forderte weiterhin eine humanere Asyl- und Migrationspolitik. Menschenrechte dürften nicht nur auf dem Papier existieren. Qusay Amer hält deshalb auch eine verstärkte Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color für relevant. Frauen sollten in dem Zusammenhang bestärkt werden, sich zu engagieren. Tarek Saad glaubt, dass dies mit einem Integrationsministerium und der Stärkung der politischen Bildung möglich werden könne.